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Femizid: Wenn sich der Mann das Recht nimmt, die Frau zu töten

Ute Günther und Mareen Hechler über Opferhilfe und Ursachen von Gewalt gegen Frauen, die all zu oft im Femizid gipfelt. Ein Interview.

Erst in jüngster Vergangenheit wurden wieder zwei Frauen im Rhein-Main-Gebiet zu Opfern der brutalen Gewalt ihrer (Ex)-Partner. Eine Kassiererin in Mörfelden-Walldorf wurde im Supermarkt erschossen. Eine Frau in Ober-Ramstadt bei Darmstadt wurde auf offener Straße mit einer Axt angegriffen und schwer verletzt. Pro Familia und die Akteur:innen des Netzwerks Gewaltschutz der Stadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt-Dieburg wollen Betroffenen helfen, bevor die Situation eskaliert. Gleichzeitig wollen sie zeigen, dass es sich bei Gewalt gegen Frauen um ein strukturelles Problem handelt.

Frau Günther, Frau Hechler, die Art, wie Medien berichten, halten Sie dabei für sehr wichtig. Warum?

Ute Günther: Untersuchungen zeigen, dass Betroffene, die nach dem Thema googeln, oftmals zuerst auf Presseberichte zu Fällen stoßen. Deshalb ist es enorm wichtig, dass die professionellen Fachberatungsstellen als Hilfsangebote in den Artikeln genannt werden und nicht nur Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen, die womöglich äußern, dass die Polizei doch nicht kommt, wenn man sie ruft. Weil das die Betroffenen sehr verunsichern kann und vom Aufsuchen professioneller Hilfe eher abhält.

Wie sehen die professionellen Hilfsangebote aus?

Mareen Hechler: Das Netzwerk Gewaltschutz arbeitet stadt- und landkreisübergreifend. Dort sind die wichtigsten Akteure aus dem Gewaltschutz zusammengeschlossen. Von Fachberatungsstellen für Frauen, Frauenhäusern, Kinderschutzbund über Jugendämter, Justiz und Polizei. Das kommunale Hilfesystem ist sehr effektiv aufgestellt.

Günther: Das Polizeipräsidium Südhessen arbeitet mit einer eigenen Taskforce aktiv im Netzwerk mit. Wir versuchen dem entgegenzuwirken, dass immer gesagt wird: „Ach, die tun ja eh nichts.“ Wir sind in Austausch mit allen Beteiligten und informieren über unsere Angebote, damit Betroffene auch zu uns überwiesen werden können.

Die erschossene Aldi-Mitarbeiterin hatte die Angst vor ihrem gewalttätigen Ex-Partner geäußert, ihn sogar wegen Körperverletzung angezeigt. Hat hier das Hilfesystem versagt?

Hechler: Ich war sehr betroffen von diesem Mord und habe mich natürlich auch gefragt, ob man dieser Frau hätte helfen können. Von außen kann ich das leider nicht beurteilen. Grundsätzlich ist es aber extrem schwierig, eine Frau davor zu schützen, wenn ein Mann eines Tages, nach einer längeren Zeit der Trennung, beschließt, seine Ex-Partnerin zu ermorden. Daher ist es so wichtig, die strukturellen Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, so dass Männer gar nicht mehr auf die Idee kommen, es stünde ihnen zu, ihrer (Ex-)Partnerin das Leben zu nehmen.

Hätten elektronische Fußfesseln helfen können, wie die hessische Landesregierung sie vorschlägt?

Hechler: Das ist sehr kritisch zu sehen, da die Fußfesseln nur für eine bestimmte Zeit angeordnet werden dürfen. Damit ist den Frauen nicht geholfen. Vielleicht wäre es eine hilfreiche Erfahrung für die Männer, am eigenen Leib zu spüren, dass es nicht in Ordnung ist, was sie tun. Aber den Schutz wirksam zu verstärken? Das sehe ich darin nicht.

Was raten Sie Frauen, die zu Ihnen kommen, weil ihr Mann sie schlägt und sie Angst um ihr Leben haben?

Günther: Die Mitarbeiterinnen der Fachberatungsstellen für Häusliche Gewalt geben eine sehr umfassende Beratung, welche Institutionen es gibt, wo sich Betroffene hinwenden und sich Hilfe holen können.

Wie läuft das konkret ab?

Hechler: In den Fachberatungsstellen nehmen die Berater:innen eine Gefährdungseinschätzung vor. Dafür gibt es einen standardisierten Fragebogen, anhand dessen die Gefährdungslage eingeschätzt wird. Dann wird überlegt, wie weiter vorgegangen wird, welche Schutzmaßnahmen getroffen werden bis hin zu einer Aufnahme in einem Frauenhaus.

Welche Schutzmaßnahmen außer Frauenhaus gibt es denn?

Hechler: Es kann sein, dass eine Betroffene erst mal zu einer Freundin oder zur Verwandtschaft ausweicht. Nicht in jeder Beziehung, in der Gewalt vorkommt, steht eine Todesdrohung im Raum. Viele Beratungsfälle fangen früher an. Es gibt unterschiedliche Stadien von Gewalt in Beziehungen. Im schlimmsten Fall versucht man, die Frau in Sicherheit zu bringen. Die Beratungsstellen und Frauenhäuser unterstützen Frauen mit Kindern dann auch dabei, Kontakt mit dem Jugendamt aufzunehmen, zu klären, wie das mit Schule und Kita funktioniert, oder helfen auch bei der Beantragung von finanziellen Leistungen.

Günther: Es geht um Stärkung und Begleitung der Frauen in diesem Prozess. Jeder Fall ist anders.

Aber die Gewalt ist immer dieselbe?

Günther: Nein. Es gibt nicht nur eine Sorte von Gewalt, es geht nicht immer nur um physische Gewalt, sondern es gibt auch ganz subtile Gewalt.

Wie kann die aussehen?

Günther: Zum Beispiel wenn der Mann sagt: „Wenn du dich trennst, siehst du deine Kinder nicht mehr. Ich werde alles tun, damit du ein schlechtes Leben hast.“ Meistens braucht es auch eine gute Beratung und Begleitung, um die Frau zu stärken, damit sie dem Mann etwas entgegensetzen kann. Es geht manchmal auch darum zu erreichen, dass sich beide gütlich einigen. Und auch nicht jeder Mann schlägt gleich zu oder bringt seine Frau um. Nicht zu unterschätzen ist auch die neu erstarkende Form der digitalen Gewalt, wenn Frauen kontrolliert werden mittels Überwachungs-Apps oder gezielt mit Drohungen im Netz bombardiert werden.

Gewalttätige Beziehungen werden oftmals als toxisch bezeichnet. Wie sehen Sie das?

Günther: In jüngster Zeit fällt der Begriff „Toxische Beziehung“ gerade in den sozialen Netzwerken sehr oft. Der Begriff kommt aus dem Bereich der Therapie und Diagnostik. Er bezeichnet aber eine pathologische, also krankhafte, Beziehung. Wir sprechen dagegen lieber von struktureller Gewalt gegen Frauen, bei der Männer versuchen, Frauen zu unterdrücken, sie klein zu halten und zu dominieren. Das ist per se erst mal keine toxische Gewalt.

Was ist die Ursache dieser strukturellen Gewalt gegen Frauen?

Günther: Untersuchungen zeigen, dass Männer zu einem Großteil in Beziehungen sehr dominant sind und dazu neigen, Gewalt, auch psychische Gewalt, auszuüben. Das kann sehr subtil sein. Und trotzdem würde ich davon abraten, immer alles gleich als toxisch zu bezeichnen, und lieber genau hinschauen und differenzieren: Auch das kann Bestandteil von einer professionellen Beratung sein.

Es herrscht weiterhin ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern …

Hechler: Jungen lernen schon im Kindergarten, dass sie sich bei Konflikten mit körperlicher Gewalt verteidigen dürfen, während Mädchen brav und lieb sein sollen. Dieses Kämpferische, sich durchzusetzen, sich Respekt zu verschaffen, spielt für Jungen und Männer eine ganz andere Rolle. Gleichzeitig begegnen wir in unserer Gesellschaft an allen Orten einer Abwertung von Frauen. Im Kleinen wie im Großen. Jeder kennt sexistische Witze. Mädchen sind Schlampen und Jungs sind Machos …

Günther: Das zeigt sich auch im politischen Bereich. Gerade im Augenblick ist es allgegenwärtig, dass man von Alphamännern spricht und Männer Eier in der Hose haben müssen. Dazu findet man viele Verweise in den sozialen Medien, in denen dies von Influencern aus Politik und Gesellschaft propagiert wird. Das traditionelle Männlichkeitsbild erlebt eine Renaissance.

Und solche Rollenbilder können zu Gewalt führen?

Hechler: Mann und Frau sind in unserer Gesellschaft nicht gleichberechtigt. Bei häuslicher Gewalt geht es immer um Macht und Kontrolle. Auch die 2018 in Kraft getretene Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt besagt, dass fehlende Gleichstellung die Ursache für Gewalt ist. Männer haben gelernt, dass Gewalt ein probates Mittel ist, um sich durchzusetzen, Frauen lernen sich unterzuordnen. Wir haben immer noch die Rollenstereotypen der dominante und erfolgreiche Mann und die liebevoll versorgende Frau. Diese Rollenbilder tragen dazu bei, dass es ein Ungleichgewicht in Beziehungen gibt. Wenn es dann zu Konflikten kommt, fühlt sich der Mann unter Umständen in seiner Ehre gekränkt, in seiner Männlichkeit verletzt und sorgt womöglich auch mit Gewalt dafür, dass die Frau in ihrer defensiven Rolle der Unterwürfigen bleibt. Das kann so weit gehen, dass sie denkt, sie hat es verdient.

Und das kann im Femizid gipfeln?

Hechler: Im schlimmsten Fall, ja.

Günther: Das geht so weit, dass ein Mann denkt, die Frau gehört zu ihm und wenn sie ihn verlässt, ist er so verletzt, dass er sich das Recht herausnimmt, ihr das Leben zu nehmen.

Hechler: Gerade eine Trennung ist der gefährlichste Zeitpunkt.

Sie stören sich an Begriffen wie Familiendrama oder Beziehungstat, die oftmals in der Presse kursieren. Warum?

Günther: Wenn ein solcher Mord in der Presse als Familiendrama bezeichnet wird, dann wertet dies die Tat ab. Womöglich kommt der Gedanke auf, die Frau sei selbst schuld gewesen. Die Fälle, in denen ein Mann seine Partnerin tötet, müssen ganz klar als Femizid bezeichnet werden. Denn hier hat ein Mann seine Stellung missbraucht, um seiner (Ex-)Partnerin Gewalt anzutun bis zum Tode. Das ist keine Beziehungstat – dieser Begriff wirkt fast entschuldigend nach dem Motto: Was hätte der Mann denn tun sollen? Die Frau hat ihn sicher provoziert, er wusste nicht mehr weiter, ist verzweifelt. All das ist keine Entschuldigung für solch eine Gewalttat.

Was macht einen Mord zum Femizid?

Hechler: Der Punkt ist, dass ein Mann sich das Recht herausnimmt, eine Frau zu töten. Das ist es, was eine Tat zum Femizid macht.

Solche Männer würden zum Beispiel im Streit keinen anderen Mann – etwa den besten Freund – töten?

Günther: Natürlich kann man das nicht verallgemeinernd sagen. Aber nach allem, was wir aus unserer langjährigen Beratungstätigkeit wissen, gibt es diese Gewaltbereitschaft vor allem bei Männern, die, wenn sie sich verletzt fühlen, bis zur Todesgewalt neigen. Bei einem Femizid ist die Botschaft: Du gehörst zu mir und ich kann dich aufgrund meiner Rolle – als Mann – verletzen und sogar töten. Ein derartiges Machtverhältnis ist bei Männerfreundschaften nicht vorhanden.

Aber so weit muss es nicht kommen?

Günther: Nein. Bevor es so weit kommt, gibt es Beratungsmöglichkeiten. Und ich kann nur jedem raten, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Niemand muss sich deshalb schämen. Wir bieten nicht nur Beratung für Frauen an, sondern auch für Männer, die gewalttätig geworden sind. Hier kann in einem geschützten Rahmen mit einem Fachberater gesprochen werden und daran gearbeitet werden, Wege aus der Gewaltspirale zu finden.

Der Axt-Täter in Ober-Ramstadt war ein Albaner, der Schütze in Mörfelden-Walldorf kam aus Bulgarien. Ist die Gewaltbereitschaft gegen Frauen in manchen Kulturen stärker verbreitet?

Hechler: Nein. Laut Datenlage kann es jede treffen, unabhängig von Alter, Herkunft oder sozialer Stellung. Der Professor kann genauso wie der Feuerwehrmann zum Täter werden, der Deutsche genauso wie der Albaner. Es lässt sich nicht auf bestimmte Männergruppen einengen.

Wie sollte das Umfeld reagieren? Manche befürchten vielleicht, dass die Situation sich verschlimmert, wenn sie die Polizei rufen.

Hechler: Man sollte unbedingt die Polizei rufen, wenn man eine Frau in der Nachbarschaft schreien hört. Die Polizei nimmt vor Ort eine Risikoabschätzung vor. Auch kann sich eine Beratungsstelle dann proaktiv bei der Frau melden. Und bekommt man mit, dass es in einer Beziehung Probleme gibt, ist es auf jeden Fall besser, der Frau die Nummer des Hilfetelefons zuzustecken, als Augen und Ohren zuzumachen.

Frankfurter Rundschau,01.04.2024